Gesundheit für alle – ein gutes Recht
Menschenrechte, Armut und Gesundheit – Die Förderung von Gesundheit bedarf des Einsatzes aller
Gesundheit ist die Voraussetzung dafür, dass Gesellschaften sich entwickeln und Armut überwinden können. Sie ist auch eine Voraussetzung für die Entwicklung jedes Einzelnen: Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Sozialpakt der Vereinten Nationen zählt die Gesundheit zu den Grundrechten eines jeden Menschen. Doch dieses Recht wird der Hälfte der Weltbevölkerung vorenthalten.
Sonja Weinreich und Alexander Lohner | Ein Dossier der VENRO-AG Gesundheit in Zusammenarbeit mit der Redaktion Welt.Sichten
Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation ist sie ein Zustand des vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Doch den können viele nicht erreichen, insbesondere in Entwicklungsländern: Jährlich sterben rund 18 Millionen Menschen an heilbaren Krankheiten wie Durchfall, Malaria und Tuberkulose. Ein Kind, das in Afghanistan geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 42 Jahren, bei einem in Deutschland geborenen beträgt sie mehr als 80 Jahre. Das Risiko einer Frau, während Schwangerschaft und Geburt zu sterben, beträgt in Deutschland 1 : 30.000, in den ärmsten Ländern der Erde 1 : 6.
Die Unterschiede im Gesundheitsstatus zwischen armen und reichen Ländern und auch innerhalb von Ländern beruhen zu einem großen Teil auf der sozialen Umwelt, in die Menschen geboren werden, in der sie aufwachsen, arbeiten und altern. Sie beruhen auf dem Bildungsstand, dem Zugang zu Ressourcen und Information, der Ernährung, dem Geschlecht, der gesellschaftlichen Teilhabe und der „Macht“: Ausgrenzung, Diskriminierung und schlechte Lebensbedingungen schaden der Gesundheit überall auf der Welt. Sehr viele der rund 4,5 Milliarden Menschen, die in Ländern mit niedrigem Einkommen leben, haben nicht die Möglichkeit, die Grundlagen für ein gesundes Leben zu legen. Denn 60 Prozent dieser Menschen haben keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen, 30 Prozent kein sauberes Wasser.
Auch eine „ungesunde“ Lebensweise, die eng verbunden ist mit Armut, trägt in vielerlei Hinsicht zu schlechter Gesundheit bei. Durch die Verbrennung unverarbeiteter fester Brennstoffe, wie sie zum Kochen benötigt werden, wird die Luft verschmutzt; eine Folge davon sind Atemwegsinfektionen, chronische Lungenerkrankungen und Lungenkrebs. Eine Million Menschen sterben jedes Jahr an diesen Folgen. Besonders betroffen sind Frauen und Kinder, die sich überwiegend in den Häusern aufhalten, und die Ärmsten, denen keine anderen Energiequellen zur Verfügung stehen.
Dazu sind Millionen von Menschen von jeglicher Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Ein Beispiel: Von den rund 40 Millionen Menschen in Entwicklungsländern, die an Epilepsie leiden, erhalten drei Viertel keine Behandlung. Die meisten könnten jedoch für relativ geringe Beträge (fünf US-Dollar pro Jahr und Person) und mit wenigen Arzneimitteln ein produktives Leben führen.
Nicht zufällig werden Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose auch „Krankheiten der Armut“ genannt, ebenso die Schlafkrankheit sowie bestimmte Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen. Für viele Krankheiten existieren Mittel zur Diagnose und Behandlung, sie müssen nicht tödlich sein – so zum Beispiel HIV/Aids – oder können zumindest gut behandelt werden. Dies gilt jedoch nicht für alle Menschen auf der Erde. Der Zugang zu Impfungen, Medikamenten und medizinischen Verfahren wie etwa Operationen – also zum „medizinischen Fortschritt“ – ist weltweit sehr ungleich verteilt und hängt davon ab, ob die Einzelnen oder die Gesellschaft dafür bezahlen können. Gesundheit ist die Voraussetzung dafür, dass Gesellschaften sich entwickeln und Armut überwinden können. Es besteht ein „Teufelskreis“ zwischen Armut und schlechter Gesundheit. Armut verursacht Krankheiten und schränkt so Arbeitsfähigkeit ein, mit der Folge von sinkendem oder wegfallendem Einkommen und noch größerer Armut.
Gelingt es, diesen Kreis zu durchbrechen, lautet die neue Abfolge: verbessertes Gesundheitswesen – bessere Gesundheit – Rückgang der Armut – Steigerung des allgemeinen Wohlstandes – Abbau sozialer Ungleichheiten – Entwicklung. Dem so genannten Wirtschaftswunder in Ostasien in den 1960er und 1970er Jahren beispielsweise gingen erhebliche Verbesserungen der Gesundheitssituation der Menschen voraus. Sie waren primär die Folge der breiten Anwendung von verbesserten medizinischen Technologien etwa bei der Überwindung von Infektionskrankheiten sowie von Fortschritten in der Hygiene seit Ende der 1940er Jahre. Wenn sich die Gesundheitslage der Menschen verbessert, erhöht sich nicht nur die Arbeitsproduktivität. Gesunde Kinder können besser lernen, und es „lohnt“ sich für Familien, in ihre Ausbildung zu investieren. Zudem lässt die Aussicht auf ein langes Leben die Sparquote und damit auch die Binneninvestitionen steigen.
Millennium-Entwicklungsziele
Die internationale Staatengemeinschaft hat die Bedeutung von Gesundheit gewürdigt und im Jahr 2000 in ihren acht Millennium-Entwicklungszielen die Gesundheit als ein zentrales Ziel gesetzt. Bis zum Jahr 2015 sollten die extreme Armut und der Hunger weltweit reduziert (Ziel 1) und erreicht werden, dass alle Kinder wenigstens eine Grundschule besuchen können. Mehr Gesundheit sollte durch drei auf Gesundheit bezogene Ziele verwirklicht werden: Bezogen auf das Jahr 1990 sollten die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel, die Müttersterblichkeit um drei Viertel gesenkt werden und HIV/Aids, Malaria, Tuberkulose (TB) und andere weitverbreitete Krankheiten sollen eingedämmt werden.
Einige Fortschritte konnten in den vergangenen Jahren erzielt werden, so in der HIV/Aids- Behandlung, der Eindämmung der Malaria und der Kindersterblichkeit. In den vergangenen Jahren haben viele Entwicklungsländer und Geberländer die Ausgaben für Gesundheit erhöht. Das macht deutlich, dass sich bei ausreichendem politischen Willen und Finanzierung die Gesundheit der Armen verbessern kann. Jedoch sich diese Fortschritte regional sehr ungleich verteilt: in Afrika südlich der Sahara und bei der Müttergesundheit wurde am wenigsten erreicht. Einige Länder haben bei ihrer medizinischen Grundversorgung sogar Rückschritte gemacht. Gerade die ärmsten Länder haben in den vergangenen 15 – 20 Jahren Einschnitte in die Gesundheitssysteme erleben müssen, in mehr als 80 Ländern ist das Pro-Kopf-Einkommen heute niedriger als vor 15 Jahren.
Die finanziellen Mittel sind zwar im globalen Maßstab gestiegen, doch längst noch nicht ausreichend, um die Menschen in armen Ländern gesundheitlich angemessen versorgen zu können. Hinzu kommen die Folgen des Klimawandels, die Gesundheitssysteme in den armen Ländern am härtesten treffen, bei gleichzeitig zunehmender Krankheitsbelastung durch Erwärmung, Überschwemmungen, Verschmutzung des Trinkwassers und Katastrophen. Globale Finanz- und Wirtschaftskrisen wirken besonders verheerend auf die Armen, treiben weitere hunderte Millionen Menschen in Armut und verschlechtern ihre Gesundheit. Frauen und Mädchen sind am meisten betroffen.
Ernährung
Die Ernährung spielt eine zentrale Rolle für Gesundheit. Mehr als eine Milliarde Menschen hungert jedoch. Wenn Menschen nicht genug zu essen haben, ist ihr Immunsystem schwach und sie sind anfällig für Krankheiten. Viele Kinder sterben, weil sie mangelernährt sind und harmlose Krankheiten für sie schnell lebensbedrohlich werden. Nur ausreichend ernährte Babys und Kinder können sich so entwickeln, dass die ihr volles Potential erreichen. Nur ausreichend ernährte schwangere Frauen haben die Voraussetzungen, ein gesundes Baby zur Welt zu bringen. Erwachsene, die akut oder chronisch krank sind, fallen als Arbeitskräfte aus und können ihre Familien zeitweise oder auf Dauer nicht mehr ernähren.
Gendergerechtigkeit
Weil Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts in vielen Gesellschaften benachteiligt sind, sind sie häufig schlechter ernährt als Männer und Jungen. Das macht sie anfälliger für Krankheiten. Oft verhindern traditionelle Vorstellungen auch, dass sie medizinisch versorgt werden, selbst wenn das möglich ist. Das ist nicht nur für die betroffenen Frauen fatal. Schließlich sind sie hauptverantwortlich für die Gesundheit in den Familien und Gemeinden. Gesundheit von Frauen und Mädchen zu fördern, bedeutet also gleichzeitig, etwas für das Wohlergehen ganzer Gesellschaften zu tun. Wenn Frauen gesünder leben können, wird damit auch erreicht, dass es ihren Familien besser geht und dass ihre Kinder bessere Zukunftschancen haben.
Krankheiten
Besonders schwerwiegend sind die Auswirkungen von Infektionskrankheiten: Allein Tuberkulose (TB), Malaria und HIV/Aids fordern jedes Jahr mehr als drei Millionen Menschenleben. Statistisch gesehen stirbt alle 30 Sekunden in Afrika ein Kind an Malaria. Durch die globale Erwärmung breitet sich der bislang in den Tropen heimische Malariaerreger weiter aus.
Nicht-übertragbare Krankheiten, wie Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Atemwegserkrankungen und Diabetes, wurden bislang häufig in der globalen Gesundheitsdebatte und der Entwicklungsarbeit „übersehen“ – sie gelten als „Wohlstandserkrankungen“, von denen die armen Länder nicht betroffen sind. Dies ist aber nicht der Fall. Sie waren auch in den armen Ländern schon immer vorhanden, und nehmen prozentual weiter zu. Bis zum Jahr 2020 werden sie für schätzungsweise 80 Prozent der globalen Belastung durch Krankheit verantwortlich sein.
Im September 2011 befassten sich die Vereinten Nationen auf einem Gipfel mit den „Nicht-übertragbaren Krankheiten“. Hier besteht eine Möglichkeit, wie ein Jahrzehnt früher bei dem Aids-Gipfel, eine Bewegung zu schaffen, um diese Erkrankungen auf die globale Agenda zu setzen.
Behinderung und Gesundheit
Besonders betroffen von Armut und Krankheit sind Menschen mit Behinderungen. Schätzungsweise 20 Prozent der ärmsten Menschen weltweit haben eine psychische oder physische Behinderung, die sehr häufig mit Beeinträchtigungen der Gesundheit verbunden ist. Nicht selten ist die Behinderung durch eine nicht behandelte Krankheit oder einen Unfall zustande gekommen. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Rehabilitationsmaßnahmen ist für Menschen mit Behinderung meist besonders schlecht, weil sie stigmatisiert sind oder weil sie aufgrund der Behinderung nicht zum Krankenhaus gelangen können. So benötigen 20 Millionen Menschen weltweit einen Rollstuhl, haben aber keinen. Und nur ein verschwindend geringer Teil der blinden und gehörlosen Menschen in Entwicklungsländern wird angemessen betreut bzw. unterstützt.
Die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ wurde im Jahr 2008 verabschiedet und von Deutschland 2009 ratifiziert. Ihr Kernelement ist, dass Menschen mit Behinderungen selbst, ihre Familien und Organisationen aktive Partner in der Umsetzung ihrer Rechte sind. Mit dieser Konvention wird zum ersten Mal international Menschen mit Behinderung das Recht auf Entwicklung verbindlich zugesprochen: Sie garantiert ihnen einen Rechtsanspruch auf Teilhabe an Entwicklungsvorhaben. Entwicklung soll „inklusiv“ sein und Entwicklungszusammenarbeit muss die Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigen.
Psychische Gesundheit
Es gibt in allen Ländern psychische Krankheiten wie Depressionen, Schizophrenie usw. – also auch in den armen Ländern. Dazu kommt, dass die Auflösung von gesellschaftlichen Strukturen, das Auseinanderfallen von Familien, der Missbrauch von Alkohol, Drogen und anderen Substanzen sowie Stress auch vor den Entwicklungsländern nicht haltmachen, ja sie besonders stark betreffen. In allen Ländern, in denen Krieg und Bürgerkrieg und Konflikt herrschen, sind die Menschen psychisch stark belastet und traumatisiert. Mehr als 800.000 Menschen sterben jedes Jahr durch Selbsttötung, die überwiegende Mehrzahl davon in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen.
Gleichzeitig sind jedoch in armen Ländern die Ressourcen für die Behandlung psychischer Krankheiten sehr begrenzt. In den reichen Ländern gibt es 200mal soviel psychiatrisches Fachpersonal wie in armen Ländern. Aids konnte nur gelingen, weil Betroffene aufgestanden sind und nichtstaatliche Organisationen ihre Stimme erhoben haben. Politische Verantwortungsübernahme auf der höchsten Ebene ist notwendig. Regierungen müssen für zivilgesellschaftliches Engagement den Rahmen schaffen und es fördern, statt es zu unterdrücken.
Urbanisierung
Die Globalisierung führt dazu, dass immer mehr gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze entstehen, weil Firmen Produktionen in arme Länder auslagern, in denen Arbeits- und Gesundheitsnormen nicht beachtet werden.
Weltweit leben immer mehr Menschen in großen Städten. Mit dem ungezügelten Wachstum der Metropolen einher gehen erhebliche Gesundheitsprobleme, verursacht durch Lärm, Schadstoffe in der Luft, unzureichende hygienische Bedingungen, schlechte Ernährung, physische Inaktivität.
Vergessen werden darf auch nicht die aggressive Werbung der Tabakindustrie, die dazu beiträgt, dass die gesundheitlichen Belastungen durch Rauchen in vielen armen Ländern zunehmen. Jährlich sterben vier Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Mit der von der Weltgesundheitsorganisation ausgehandelten „Framework Convention on Tobacco Control“ haben sich die Länder zur Tabakkontrolle verpflichtet – sie wird jedoch nicht genügend umgesetzt.
Die Eindämmung von Krankheiten und Epidemien, die Entwicklung hemmen und ungezähltes Leid hervorbringen, und die Förderung von Gesundheit auch der Armen bedarf der Anstrengung aller. Regierungen, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft, Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften wie auch die betroffenen Menschen selbst sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten. Die Bekämpfung von Aids konnte nur gelingen, weil Betroffene aufgestanden sind und nichtstaatliche Organisationen ihre Stimme erhoben haben.
Politische Verantwortungsübernahme auf der höchsten Ebene ist notwendig. Regierungen müssen für zivilgesellschaftliches Engagement den Rahmen schaffen und es fördern, statt es zu unterdrücken.
Dr. Sonja Weinreich
ist Referentin für Gesundheit beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED).
Prof. Dr. Dr. Alexander Lohner
ist Leiter des Grundsatzreferats beim Hilfswerk Misereor und Honorarprofessor für Ethik an der Universität Kassel.