agl – Aufruf an Politiker*innen und politische Entscheidungsträger*innen in Bund, Ländern und Kommunen
Zeit der Solidarität – auch nach Corona. Engagement in Deutschland und weltweit braucht Ihre Unterstützung
Sehr geehrte Mandatsträger*innen in Bund, Ländern und Kommunen, sehr geehrte Damen und Herren,
das Corona-Virus erschüttert die Welt – alle Länder und gesellschaftlichen Bereiche stehen vor enormen Herausforderungen. Wir stehen am Anfang der Krise und wissen derzeit noch nicht, welche gesellschaftlichen Auswirkungen auf uns zukommen. Sicher ist nur, dass sich vieles verändert. Auch die Entwicklungspolitik und die internationale Zusammenarbeit werden sich wandeln (müssen). In der Krise wird deutlich, wie sehr die Corona-Krise mit globaler und sozialer Ungleichheit verwoben ist – es trifft die Armen und Schwachen am stärksten. Die Corona-Krise ist aber auch eine Zeit der Solidarität. Ob in den Nachbarschaften und den Kiezen, in der Politik, in Betrieben oder in Projekten von entwicklungspolitischen Organisationen der Eine Welt-Arbeit: Wir erleben eine Welle der gegenseitigen Hilfe und der Suche nach neuen Lösungen. Dass ganze Gesellschaften stillstehen, um entgegen wirtschaftlichen Interessen Leben zu retten, ist ein sehr positives Zeichen – ein Keim für neue Formen der Solidarität. Auch wenn wir am Anfang einer neuen Zeit stehen, so schöpfen wir daraus Zuversicht für Zukunft.
Eine Welt-Initiativen und entwicklungspolitische Organisationen auf allen Ebenen werden jetzt für die Förderung und die praktischen Strukturen gesellschaftlicher und globaler Solidarität mehr gebraucht denn je. Sie sind für das, was kommt, unverzichtbar. Und sie haben gezeigt, dass sie diese Herausforderungen angenommen haben. Sie engagieren sich im ganzen Land für eine Post-Corona-Welt, in der aus der Krise gelernt wird und die Transformation zu einer ökologischen und gerechten Welt neuen Schub erhält: Sie sind Fachleute der Solidarität – und zwar auf der praktischen und bürgerschaftlichen Ebene. Sie stellen das nachhaltige Miteinander in den Mittelpunkt ihres Engagements. Sie sind authentische Vertreter*innen einer direkten und gelebten, globalen Solidarität. Von Bürger*innen zu Bürger*innen, über Ländergrenzen hinweg. Sie setzen sich für integrative Lösungen ein, hier und weltweit.
Solidarität ist unteilbar: Eine Welt-Initiativen arbeiten daran, dass Solidarität zum globalen Prinzip wird und zu globalem Handeln führt. Die derzeitig erkennbaren Tendenzen zu nationalen Egoismen sind jedoch besorgniserregend. Solidarität darf nicht vor nationalen Grenzen Halt machen, denn sie ist unteilbar. Eine Welt-Initiativen setzen sich dafür ein, dass sich das Engagement für das Gemeinsame im eigenen Land auf der globalen Ebene fortsetzt. Die Corona-Krise ist auch eine Zeit der Solidarität. Jetzt geht es darum, dass auch die Post-Corona-Zeit eine solche wird. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass Strukturen zivilgesellschaftlichen Engagements nicht aufgrund wirtschaftlicher Schäden wegbrechen, sondern jetzt gestützt und gestärkt werden.
Die agl und die in ihr zusammengeschlossenen 16 Eine Welt-Landesnetzwerke in den Bundesländern rufen Sie dazu auf, dieses Engagement in Ihrem Wirkungskreis zu unterstützen. Damit globale Solidarität und die Initiativen dafür auch in Post-Corona-Zeiten gestärkt werden, sieht die agl die folgenden sieben Schwerpunktbereiche als zentral an:
- Stärkung der internationalen Zusammenarbeit: Als zentrale Akteure für praktische internationale Solidarität sind das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ihre Vorfeldorganisationen GIZ und Engagement Global sowie zivilgesellschaftliche entwicklungspolitischen Organisationen jetzt besonders gefragt – sie müssen dafür entschiedene politische Unterstützung und notwendige Ressourcen erhalten. Wir unterstützen die Vorschläge von Bundesminister Gerd Müller für ein globales Vorgehen und die Bildung eines Weltkrisenstabes durch die Vereinten Nationen. Auch seine Forderungen nach mehr finanzieller internationaler Unterstützung durch die Europäische Union unterstützen wir. Es ist dringend notwendig, dass eine breite globale Unterstützung der Länder des Globalen Südens organisiert wird, denn viele sind während und nach der tödlichen Corona-Welle von nachfolgenden Katastrophen bedroht. In Ländern des Globalen Südens müssen Gesundheitssysteme gestärkt und vulnerable Gruppen geschützt werden. Drohende Hungerkatastrophen müssen verhindert und Menschenrechte in Lockdown-Zeiten effektiv gewahrt werden. Deutschland muss hier Verantwortung übernehmen und einen Beitrag leisten, auch finanziell. Dabei ist es wichtig, die Zivilgesellschaft hier und im Globalen Süden konsequent einzubeziehen.
- Fortführung von Projekten in Ländern des Globalen Südens auch unter erschwerten Bedingungen: Zentral ist jetzt, dass Geldmittel der Entwicklungszusammenarbeit nicht abgezogen werden, weil durch die Corona-Krise Arbeitsstrukturen instabiler geworden sind oder die Leistungen nicht mehr in dem vereinbarten Maße erbracht werden können. Mittelfluss und Liquidität sind wichtige Grundlage für das Fortbestehen entwicklungspolitischer Strukturen und Organisationen, die zur Bewältigung der Krise und danach benötigt werden. Die oft jahrelang aufgebauten Strukturen vor Ort dürfen jetzt nicht geschwächt, sondern müssen erhalten und gestärkt werden – sie sind wichtige Akteure, die in der Krise und beim Wiederaufbau gebraucht werden. Auch sollten sie bei einer globalen koordinierten Krisenbewältigung einbezogen werden.
- Sofortige Hilfe für Geflüchtete: Während sich die Situation in einigen Ländern bereits zu erleichtern beginnt und schon über die Lockerung von Maßnahmen diskutiert wird, stehen
einigen Ländern des Globalen Südens und geflüchteten Menschen in Lagern große Katastrophen bevor. Politische Richtungsauseinandersetzungen in der EU dürfen nicht auf dem Rücken von Geflüchteten ausgetragen werden. Hier müssen jetzt sofort und unkompliziert humanitäre Hilfe und Unterstützung organisiert werden. Die griechischen Lager müssen sofort evakuiert werden, auch ohne gesamteuropäische Einigung. - Nachhaltiger Wiederaufbau: Positiv und gleichzeitig skeptisch betrachten wir die positiven Effekte auf das Klima, etwa wenn die CO2-Emissionen in Zeiten des Lockdowns stark reduziert werden. Es zeigt, dass mehr möglich ist, als gedacht. Wir sehen aber auch die Gefahr eines gegenläufigen Effekts, wenn die Wirtschaft wieder hochgefahren wird. Das heißt, dass dann aus Gründen des schnellen Wiederaufbaus Klimaaspekte in den Hintergrund rücken könnten. Wir begrüßen daher den Vorstoß des Bundesfinanzministers Olaf Scholz, das kommende Konjunkturprogramm ökologisch auszurichten. Auch das Plädoyer der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina für einen nachhaltigen Ansatz bei der Krisenbewältigung begrüßen wir. Sie empfiehlt eine Wende zu nachhaltigen Wirtschaftsformen, mehr europäischer und internationaler Kooperation sowie eine Stärkung der Daseinsvorsorge und Gemeinschaftsgüter. Eine Welt-Initiativen in Deutschland setzen sich dafür ein, dass der Wiederaufbau konsequent ökologisch und sozial sein wird.
- Stärkung der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und des Globalen Lernens als praktische Solidaritätsarbeit in Deutschland: Gerade in Krisenzeiten ist es besonders wichtig, solidarische und verantwortliche Grundeinstellungen bei den Menschen zu stärken und den neuen Gegebenheiten anzupassen – ebenso wie die kritische Information und Debatte über globale Themen. Die Befähigung, sich in die Lage anderer zu versetzen und zum Perspektivenwechsel ist für die gemeinsame Bewältigung der globalen Corona-Krise mehr denn je von enormer Bedeutung – im Globalen Lernen wird dies gefördert. Globales Lernen knüpft an der Solidarität an und kann in der Krise entstandene Lösungen aufgreifen. Dies ist auch wichtig, um gesellschaftlicher Polarisierung und sozialen Verwerfungen vorzubeugen, bzw. diesen entgegen zu wirken. Nach Corona soll die Eine Welt in stärkerem Maß als heute eine Welt der Solidarität und der globalen Verantwortung sein. Dafür setzen sich Eine Welt-Organisationen jeden Tag ein. Viele sind derzeit dabei, ihre Arbeitsstrukturen zu erhalten, nicht wenige stecken selbst in existenzbedrohenden Situationen. Wir brauchen daher eine entschiedene Stärkung von zivilgesellschaftlichen Trägern der entwicklungspolitischen Bildung und des Globalen Lernens in Deutschland. Das betrifft beispielsweise Angebote wie Workshops, Projekttage, Kampagnen, Fortbildungen, Stadtführungen, Schulentwicklungsprozesse, Information & Beratung, Volkshochschulkurse, Uni- Seminare, Trainings, Fachgespräche, Podiumsdiskussionen, Tagungen & Kongresse. Zu Themen wie: Weltwirtschaft und Fairen Handel, Flucht und Migration, Diversität, Kinderrechten, Klimawandel oder Ressourcengerechtigkeit – und jetzt zu den globalen Zusammenhängen in der Corona-Krise. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine Gesellschaft im Sinne weltbürgerlicher Verantwortung aktiv mitgestalten und dafür wichtige Kenntnisse und Motivationen bei den Menschen fördern und ihnen Angebote für eigenes Aktivwerden machen. Sie leisten wichtige Beiträge für die Bewältigung und Verarbeitung der Krise sowie des Lernens aus ihr – und zwar so, dass internationale Solidarität eine wichtige Eigenschaft unserer Gesellschaft ist, die auch während und nach Corona erhalten bleibt und neue, nachhaltige Formen entwickelt. Wir brauchen jetzt weiterhin eine entschiedene Unterstützung und Förderung des bürgerschaftlichen, globalen Engagements.
Beispiele aus der Praxis der Entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und des Globalen Lernens:
- Zugang zu Wirtschaftshilfen für entwicklungspolitische Vereine und Weltläden: Sie sind in der aktuellen Situation besonders vulnerabel. Sie verfügen häufig kaum über Rücklagen oder Kreditwürdigkeit und müssen doch mit den gleichen Herausforderungen (Gehälter, Ausfallkosten, Mieten etc.) wie alle Unternehmen umgehen. Auch sind sie wie alle Betriebe durch den Ausfall der Kinderbetreuung und die damit verbundenen Personalprobleme betroffen. Zudem drohen Spenden und Fördergelder einzubrechen, was kleine und mittlere NGO relativ schnell
in ihrer Existenz bedrohen wird. Die Spendenbereitschaft kann wieder steigen, Förderprogramme können wieder aufgelegt werden, aber einmal zerstörte NGO-Strukturen sind viel schwerer wieder neu aufzubauen. Gemeinnützige Organisationen und Vereine brauchen ebenso wie Unternehmen schnellen und umfangreichen Zugang zu finanziellen Hilfen. Derzeit ist noch nicht klar ob und unter welchen Bedingungen dieser Zugang zu den Maßnahmen des Bundes und in den Bundesländern besteht. Dazu gehören explizit auch die zahlreichen Weltläden in Deutschland, die oft als Vereine mit Wirtschaftsbetrieb eine Zwischenstellung haben. Es ist offenbar von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich bzw. noch nicht geklärt, ob sie Zugang zu Hilfen erhalten. - Administrative Flexibilität bei geförderten Projekten: Gemeinnützige Organisationen brauchen Flexibilität bei der Abwicklung geförderter Projekte, um sich den Anforderungen anzupassen: Verschiebungen von Maßnahmen, Ausfälle, Reduzierungen von Maßnahmen und Mehrkosten müssen kulant von den Geldgebern auf Ebenen des Bundes, der Länder und Kommunen behandelt werden, damit jahrelang aufgebaute Strukturen der globalen Solidarität erhalten bleiben und die jetzt wichtige gesellschaftliche Ressourcen für die Krisenbewältigung sind. Für Ihre Unterstützung danken wir Ihnen – ganz im Sinne eines solidarischen Zusammenwirkens für die Eine Welt auch in Post-Corona-Zeiten. Für Ihre Rückfragen, Anregungen sowie bei der Erarbeitung von Lösungen stehen die agl und das Eine Welt-Landesnetzwerk in Ihrer Nähe sehr gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Udo Schlüter, agl-Vorstandsvorsitzender
Simon Ramirez-Voltaire und Tobias Peter, agl-Geschäftsführung