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I can’t breathe … seit 500 Jahren

Warum Rassismus auf dem Vormarsch ist und warum das ein Schuss ins eigene Knie ist

Verfasst von: Serge Palasie, Fachpromotor Flucht, Migration und Entwicklung | Eine Welt Netz NRW

George Floyds Ermordung am 26. Mai durch einen weißen Polizisten in den USA löste weltweite Proteste aus, an denen von Rassismus betroffene Menschen genauso teilnahmen und teilnehmen wie nicht von Rassismus betroffene Menschen. Gestern, am 6. Juni demonstrierten Zehntausende in ganz Deutschland gegen Rassismus, der auch hier bei uns eine Jahrhunderte alte Tradition hat. Exzessive Gewalt gegen Schwarze weltweit ist so alt wie der Westen selbst. Der Westen hat seine Existenz der Ausbeutung Afrikas und der Dehumanisierung von Menschen afrikanischer Abstammung zu verdanken. Der erste „Treibstoff“, derEuropa aus 1000 Jahren Mittelalter herausholte, war weder Dampfkraft, noch Erdöl. Der größte Umverteilungsprozess der Geschichte, der eine transatlantisch dominierte Welt zunehmend ermöglichte, wäre ohne Sklav*innen afrikanischer Herkunft undenkbar.

60 Millionen Menschen verlor der afrikanische Kontinent auf diese Weise. Vierfünftel starben dabei, der Rest (und seine in den Amerikas geborenen Nachfahren) erschuf durch seine Muskelkraft den Westen. Ein Historiker sagte einmal: Wenn der Atlantik austrocknen würde, muss man nur den Skeleten folgen, um von Afrika nach Amerika zu finden. Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass die USA ohne Sklaverei 200 Jahre länger gebraucht hätten, um den „Entwicklungsstand“ des Jahres 2000 zu erreichen. Ähnliches gilt für Europa: Das Kapital, das über die Jahrhunderte des Sklavenhandels angehäuft wurde, ermöglichte die Industrialisierung erheblich mit.Und die Industrialisierung war der Startschuss für den Run auf Afrikas Ressourcen. Da der Sieger bekanntlich Geschichte schreibt, meinen viele Nutznießer*innen dieser Geschichte aber leider, dass es allein dem Erfindungsgeist und der Genialität der Vorfahren zu verdanken wäre, dass der Westen zunehmend die Welt dominieren konnte. DE FACTO ABER HAT EIN SYSTEM, DAS OHNE ANGERISSENE AUSBEUTUNGSGESCHICHTE NICHT EXISTIEREN WÜRDE, SEIT 500 JAHREN SEIN KNIE AUF DEM HALS AFRIKAS UND VON MENSCHEN AFRIKANISCHER HERKUNFT (und auf dem Hals anderer rassifizierter und marginalisierter Gruppen weltweit). Und es tut alles, damit das Opfer in dieser Situation bleibt.

Die Furcht vor einer Befreiung des Opfers und eine damit möglicherweise verbundene Umkehrung der Situation ist zu groß. Nun aber ist dieser wesentlich durch transatlantischen Sklavenhandel und Kolonialismus begründete Besitzstand so gefährdet wie nie zu vor. Neue nicht-weiße Player erscheinen zunehmend auf der Weltbühne und nehmen einem scheinbar gottgegebenen System zunehmend die Butter vom Brot. Das Wiedererstarken von Rassismus (der nie weg war) ist vor diesem Hintergrund erklärbar. Trump, AfD, Le Pen und Co. wären ohne eine wachsende Verlustangst in der Bevölkerung nicht denkbar. Und nun, wo die „weiße Vorherrschaft“ in Gefahr ist, drückt man sein Knie umso fester auf den Nacken des Opfers. Das Traurige neben dem Rassismus selbst: Dem kleinen weißen Mann (und der kleinen weißen Frau) wird vorgegaukelt, dass eine rassistische und auf Exklusion abzielende Politik die Lösung für alle Probleme sei. Dass das nicht so ist, wissen die populistischen Politiker*innen selbst. Sie instrumentalisieren die vorhandenen (Abstiegs)Ängste und tun alles dafür, dass diese Ängste zu Wut und Hass werden. Der wachsenden Schicht „kleiner Weißer“ wird das Gefühlvermittelt, dass an den wachsenden Problemen die „Anderen“ schuld seien, denen man per „Rasse“ überlegen sei und daher das Recht habe, sie mit allen Mittel zu bekämpfen. Dass die Populist*innen ihre Probleme nicht lösen werden können, ist ihnen nicht bewusst. Auch als verhältnismäßig privilegierte Weiße werden sie am Ende doch nur benutzt.Glücklicherweise –und das zeigen die Demos der letzten Wochen – gibt es auch zahlreiche Weiße, die sich aus Überzeugung gegen jeglichen Rassismus aussprechen. Letzteres braucht es in zunehmendem Maße: Schon am Anfang des systematischen Dehumanisierungsprozesses nicht-weißer Menschen im 17. Jahrhundertging es auch darum, einer Solidarisierung zwischen kleinem weißen und kleinem nicht-weißen Mann (und Frau) entgegenzuwirken. Beide waren im frühen Amerika ähnlich stark von entwürdigender Ausbeutung potentiell betroffen. Indem man den kleinen Weißen das Gefühl gab, immer –egal wie schlecht man dastand –wenigstens eine Gruppe aufgrund von Rassismus unter sich zu haben, beruhigte man sie bzw. sorgte dafür, dass sich ihre Wut nicht gegen die eigenen Eliten, sondern die konstruierten „Anderen“ richtete. So etablierte sich der Rassismus.Wenn der wachsende Rassismus, der in Deutschland letztlich seit der Wiedervereinigung 1990 auf dem Vormarsch ist, neben dem Erstarken der Populist*innen nun aber auch zunehmend eine Wiederverbrüderung über konstruierte Hautfarbengrenzen hinweg bewirkt, besteht zumindest noch Hoffnung. Die Zukunftsfähigkeit von bisher weißdominierten Gesellschaften hängt immer stärker von der Fähigkeit ab, allen Bürger*innen gleiche und volle Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, auch aufgrund des sich nicht erst seit gestern abzeichnenden demografischen Wandels. Deutschland verfügt über keine nennenswerten Ressourcen. Ausnahme: Die „Köpfe“ der Menschen, d.h. die potentielle Innovations-und Organisationskraft. Global gesehen ist White Supremacy zunehmend Geschichte. Ein wachsender Rassismus innerhalb von bisher weißdominierten Gesellschaften kann diesen Trend nicht umkehren. Im Gegenteil: Wer in der heutigen globalisierten Welt mit all ihren Herausforderungen die Zeichen der Zeit nicht erkennt, spielt mit der eigenen Zukunftsfähigkeit.

Serge Palasie, Fachpromotor Flucht, Migration und Entwicklung, 6. Juni 2020| Internet: www.eine-welt-netz-nrw.de.

https://eine-welt-netz-nrw.de/fileadmin/ewn/data/Themen/Flucht_Migration/Black-lives-matter.pdf
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