Zur aktuellen wirtschaftlichen Lage im Iran
Inzwischen liegt der Beginn der Massenproteste nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini durch das Islamische Regime (IR) im Iran sieben Monate zurück. In den ersten Wochen und Monaten haben vor allem junge Iranerinnen und Iraner, über religiöse, gesellschaftliche und ethnische Grenzen hinweg, landesweit ihren Protest und ihre Forderung nach Sturz des Regimes auf die Straße gebracht.
Durch Schauprozesse inhaftierter Demonstrant:innen, die nicht im geringsten den Ansprüchen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügen, durch die Verhängung der Todesstrafe und deren Durchführung bei vier Demonstranten ist es dem Mullah-Regime und den Revolutionsgarden gelungen, die Revolution einzudämmen – allerdings nur kurzfristig. Auch wenn die Proteste aktuell weniger und kleiner geworden sind, die Wut und die Unzufriedenheit der Menschen mit dem IR sind ungebrochen. Das vorübergehende Abebben der Massenproteste ist also keinesfalls gleichbedeutend mit einem Ende der gerechtfertigten Forderungen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung nach einem Sturz des Islamischen Regimes. Die Gründe liegen auf der Hand:
Dieses Regime hat seine Legitimation schon vor langer Zeit durch seine religiös-fundamentalistisch geprägte Politik verloren, die alle Iranerinnen dem Verschleierungszwang unterwirft und sie rechtlich und ökonomisch diskriminiert, die ethnische und religiöse Minderheiten ihrer politischen und kulturellen Rechte beraubt und die jegliche politischen Freiheiten, sei es Meinungs- und Pressefreiheit oder die Gründung von unabhängigen Parteien, verbietet und Zuwiderhandlung durch Haft und Hinrichtung verfolgt.
Galoppierende Inflation
Verloren hat das Regime seine Legitimation darüber hinaus durch eine Wirtschaftspolitik, die seit Beginn seiner Herrschaft durch Unvermögen, Vetternwirtschaft und Korruption gekennzeichnet ist. Während die Führungselite der Mullahs und Revolutionsgarden immer größere Reichtümer im In- und Ausland hortet, verzweifelt die große Mehrheit der iranischen Bevölkerung unter der ökonomischen Unfähigkeit und Ineffizienz des Islamischen Regimes, verschärft durch die Sanktionen, die es v.a. aufgrund seiner Atompolitik ebenfalls zu verantworten hat.
Neben den fehlenden beruflichen Perspektiven, insbesondere für gut ausgebildete junge Iraner und Iranerinnen, leiden die Menschen[1] schon seit Beginn der 80er Jahre stets unter hohen jährlichen Inflationsraten, oftmals jenseits der 20%. Aktuell steigt die Inflation jedoch dramatisch: 2022 lag sie bereits bei 49% und in den ersten Monaten dieses Jahres beträgt sie 50%. Resultierend aus dieser galoppierenden Geldentwertung hat sich die Zahl der Menschen im Iran, die unter extremer Armut leiden, innerhalb eines Jahres fast verdoppelt; mittlerweile ist ein Drittel der iranischen Bevölkerung von extremer Armut betroffen. So benötigte eine vierköpfige Teheraner Familie im Jahr 2022 ein monatliches Mindesteinkommen von ca. 14,7 Millionen Tuman für ein Leben oberhalb der Armutsgrenze, das landesweite Durchschnittseinkommen lag jedoch bei lediglich ca. 7,7 Millionen. Laut einer iranischen Soziologin und Universitätsdozentin deckt der Monatslohn von Arbeiter*innen im Iran nur die Hälfte ihrer Mindestausgaben[2]. Verschärfend kommt hinzu, dass in mehreren Provinzen (12 von 31) der Kaufkraftverlust für Lebensmittel von 70 % noch deutlich die generelle Inflationsrate übersteigt. Ein Fakt, der sich im rückläufigen täglichen Lebensmittelverbrauch – einem Armutskriterium – niederschlägt. Durch längere Arbeitszeiten oder durch Zweit- und Drittjobs versuchen die Menschen deshalb, ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern und sich dem Armutsrisiko entgegenzustemmen. Dadurch bleibt ihnen allerdings weniger Zeit und Geld für zivilgesellschaftliches und politisches Engagement. Eine schwerwiegende gesellschaftspolitische Folge dieses desaströsen Wirtschaftsversagens[3].
Betroffen davon ist auch die Streikfähigkeit der Arbeiter und Arbeiterinnen, der Angestellten, aber auch der Bazaris. Denn infolge der hohen Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig extrem niedrigem Einkommen sowie fehlenden Streikkassen ist es für sie existenziell nahezu unmöglich, einen Streik durchzuführen: Sie können sich Verdienstausfälle kaum leisten.
Zugleich hat das Islamische Regime von Beginn seiner Herrschaft freie und unabhängige Gewerkschaften verboten, zahlreiche Gewerkschafter verhaftet, Arbeitnehmerrechte massiv eingeschränkt, den Kündigungsschutz und das Streikrecht von Arbeitern aufgehoben. Streiks werden seitens des Regimes als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ eingestuft, die Teilnahme zumindest mit langjähriger Haft bestraft. Dennoch lassen sich die Menschen nicht von diesem restriktiven Vorgehen einschüchtern. In den vergangenen Monaten haben mehrfach Arbeiter der verschiedensten Industriesparten, aber auch Bazaris, landesweit die Forderung „Zan-zendegi-azadi“, Frau. Leben. Freiheit, sowie Sturz des Regimes durch mehrtägige Generalstreiks unterstützt.
Aktuelle Arbeitsniederlegungen
Ausgangspunkt der aktuellen Arbeitsniederlegungen war der Beschluss des Regimes vom März, den Mindestlohn ebenso wie die Gehälter der einfachen Angestellten lediglich um 27% anzuheben und auf etwa acht Millionen Tuman festzulegen. Dies wird von allen Beschäftigten angesichts der Inflationsrate von 50% als absolut inakzeptabel abgelehnt.
Nachdem im März bereits Arbeiter und Arbeiterinnen der Zuckerfabrik Hafttapeh, Sammeltaxifahrer in Hamedan und Krankenhauspersonal in Sanandaj gegen diese Beschlüsse protestierten, begannen am 25. April Streiks in den Subunternehmen der Ölindustrie, der sich mittlerweile 93 Betrieben der Öl- und Petrochemie und der Stahl- und Kupferindustrie angeschlossen haben. Der Arbeitskampf betrifft schwerpunktmäßig vor allem die südlichen Provinzen des Landes, die einen regionalen Schwerpunkt der Öl- und Stahlindustrie bilden, aber auch Großstädte wie Isfahan und Rasht.
Der Arbeitskampf richtet sich gegen Armut, steigende Preise sowie die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Es sollen die ökonomischen Forderungen nach einer 79%-igen Lohnsteigerung, einer termingerechten Zahlung der Löhne, einer Reduzierung der bisherigen Arbeitswoche auf fünf Arbeitstage, einer Verringerung der täglichen Arbeitszeit um zwei auf acht Stunden sowie weitere Verbesserungen der miserablen Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden.
Ein Großteil der im Streik befindlichen Arbeiter ist lediglich mit einem befristeten Arbeitsvertrag ausgestattet und riskiert mit der Teilnahme an diesem Arbeitskampf die Kündigung und damit den Verlust der Lebensgrundlage ihrer Familie. Gleichzeitig drohen Sicherheitskräfte ihnen ebenso wie ihren Familien mit ernsthaften Konsequenzen, falls sie ihre Teilnahme am Streik nicht umgehend beenden, da viele der Firmen in diesen Wirtschaftssektoren im Eigentum der Revolutionsgarden oder zumindest sehr eng mit diesen verknüpft sind.
In einem aktuellen Vortrag hat der ehemalige Chef der iranischen Zentralbank Hemmati eine weitere Verschlechterung der Wirtschaftslage des Iran für die kommenden drei bis vier Monate vorausgesagt, da die Machthaber im Iran unfähig sind, die weitere wirtschaftliche Talfahrt zu stoppen. Somit kann angesichts der sich verschärfenden ökonomischen Krise – parallel zur allgemeinen politischen Delegitimation des Islamischen Regimes – mit noch größeren Unruhen und Protesten der Arbeiter, aber auch der Bevölkerung insgesamt, zukünftig gerechnet werden.
Die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter benötigen momentan die nationale und internationale Solidarität, vor allem auch der Gewerkschaften.
Unterstützen wir ihre berechtigten Forderungen, verlangt die Freiheit gewerkschaftlicher Tätigkeit und die Freilassung aller inhaftierten sowie zum Tode verurteilten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter im Iran!
1 Iran - Inflationsrate bis 2028 | Statista
2 Irans Regierung fällt Arbeiterschaft in den Rücken - Iran Journal
3 Iran-Politik: Die Starken schwächen, die Schwachen stärken | Internationale Politik